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Der Roman

Rezensiert von Christopher Spatz, 15. September 2015

Sie sagt:

All das steigt aus der Vergangenheit auf wie aus dem Dunst. Menschen und Ereignisse, in vom Wind vor sich hergetriebenen Schnee oder in geräuschlos dahinschwebenden Nebel gehüllt. Alles in weite Ferne gerückt, nicht aber vergessen. Einige Details sind deutlich sichtbar, andere schon verloren, gerade wie auf einem langsam vergilbenden Foto. Zeit und Vergessen haben alles mit Schnee und Sand, Blut und trübem Wasser überdeckt.     

Der Hunger war schlimm. Er nagte wie eine in der Brust sitzende Ratte. Er ließ einen voller Wasser laufen, wie irre herumbrüllen und später eintrocknen. Zwischen Angehörigen zog er Mauern aus Glas. Er machte einsam. Am Ende verlor man sich selbst.    

Behutsam nähert sich der litauische Dichter und Autor Alvydas Šlepikas dem Nachkriegsschicksal ostpreußischer Kinder. Das allein wäre schon bemerkenswert, ist doch das Thema bislang literarisch unberührt geblieben. Im geschundenen Königsberg und seiner Umgebung starben zwischen Mai 1945 und Frühjahr 1947 über 100.000 deutsche Zivilisten. Großfamilien schrumpften auf wenige Köpfe. Dorfgemeinschaften atomisierten. Übrig blieben Mädchen und Jungen, die vor dem sicheren Tod nach Litauen flüchteten und dort mit Hilfe einer neuen Identität zu überleben versuchten.  

Der Roman Mein Name ist Marytė erzählt die Geschichte eines solchen Kindes, dessen richtiger Name Renate ist. Diese Renate hat bis 1945 dasselbe Leben geführt wie ihre Altersgenossen in Bayern, Hessen oder Holstein. Doch im Gegensatz zu den westdeutschen Mädchen und Jungen bringt ihr das Kriegsende keinen Neustart. In Ostpreußen gibt es von den Besatzern nicht einmal Schokolade. Hier müssen Kinder mit bloßen Händen die Gefallenen aus Wäldern und Straßengräben ziehen und in Bombentrichtern verscharren, Vergewaltigungsexzesse verkraften und sich in kürzester Zeit zu Überlebenskämpfern entwickeln. Das bisschen Brot, das Renates Mutter für ihre Arbeit erhält, reicht nicht aus, um die ganze Familie zu ernähren. Renate und ihre Geschwister bleiben sich selbst überlassen. Sie beginnen zu streunen und verrohen. Bald ist der Selbsterhaltungstrieb stärker als jedes andere Gefühl. Renate setzt sich nach Litauen ab, wo es Bauern geben soll, die deutschen Kindern Nahrung und Obdach geben.

Wie bewältigten Acht- und Zehnjährige den Weg in ein fremdes Land, ohne Mutter, Zielort und Sprachkenntnisse? Welche Erfahrungen sammelten sie beim Betteln? Wie bewegten sie sich zwischen den Fronten des litauischen Unabhängigkeitskampfes? Weshalb fanden sie als Deutsche dort überhaupt so eine breite Unterstützung? Und was passierte in ihrem Innern, wenn sie schließlich ihren Namen fürs Überleben eingetauscht hatten? Alvydas Šlepikas hat in der ostpreußischen und litauischen Nachkriegsgeschichte meisterhaft recherchiert. Seine zahlreichen Gespräche mit Zeitzeugen lässt er in die Hauptfigur Marytė einfließen und komponiert eine Handlung, die sich so nach 1945 tausendfach zugetragen hat. Souverän umschifft er dabei die Klippen lauernder Rührseligkeit und verliert sich ebenso wenig in der Darstellung bloßer Gewalt. Sein nüchterner Erzählstil fesselt, weil er mit lakonischen Einwürfen Bilder von ungeheurer Tiefe und emotionaler Wucht zu schaffen versteht.

Während der Deutschland-Präsentation seines Buches in Dresden, Berlin, Kiel und Bremen hat der Autor auf Vergleiche mit den aktuellen Migrationsströmen verzichtet. Er tut gut daran, bestünde ansonsten doch die Gefahr, dass die historischen Besonderheiten der Wolfskinder-Schicksale unter dem mehr als unscharfen Flüchtlings- und Kriegskinderbegriff verdeckt werden würden. Šlepikas möchte den Wolfskindern, die ein halbes Jahrhundert schweigen mussten, eine weithin vernehmbare literarische Stimme verleihen. Jüngeren Generationen ermöglicht er gleichzeitig eine beeindruckende Reise in die Welt der kleinen ostpreußischen Bettler und ihrer litauischen Lebensretter. Gut denkbar, dass er damit für einen wichtigen Abschnitt der jahrhundertelang fruchtbaren deutsch-litauischen Nachbarschaft Bleibendes geleistet hat. In Litauen, wo Mein Name ist Marytė bereits vor drei Jahren erschienen ist und inzwischen in der 5. Auflage vorliegt, wurde der Roman mehrfach ausgezeichnet, u.a. als ‚Buch des Jahres 2012‘ und mit dem Preis des Litauischen Schriftstellerverbandes. Dank der hinreißenden Übersetzungsarbeit von Markus Roduner ist der Zauber dieses Buches ab sofort auch für die deutschsprachigen Leser zugänglich. 


Šlepikas, Alvydas: Mein Name ist Marytė,
Mitteldeutscher Verlag in Halle (Saale) 2015, 19,95 Euro.

© Vladas Braziunas

Alvydas Šlepikas wurde 1966 in Videniškės (Litauische Sowjetrepublik) geboren. Er ist ausgebildeter Schauspieler und Bühnenregisseur, inszenierte an verschiedenen litauischen Theatern und schrieb Drehbücher für das Fernsehen. 1994 debütierte Šlepikas als Dichter. Zwei erste Gedichtbände erschienen 1997 und 2003. 2005 veröffentlichte er seinen ersten Prosaband ‚Lietaus dievas‘ (Der Regengott). Šlepikas lebt und arbeitet als Literaturredakteur bei der Wochenzeitschrift ‚Literatūra ir menas‘ (Literatur und Kunst) in Wilna.

 

Weitere Informationen zum Autor und seinem Roman gibt es auch hier:


Buch-Autor Šlepikas: „Der Krieg dauert an“,
in:  DEUTSCHE WELLE  07.05.2013