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Autoreninterview

Berlin, den 17. Oktober 2016

„Starke Kinder, starke Menschen“


Wolfskinder-Geschichtsverein:
 Herr Spatz, in Ihrer jüngsten Veröffentlichung „Nur der Himmel blieb derselbe“ geht es um Ostpreußens Hungerkinder. Wer ist damit gemeint?
Christopher Spatz: Damit sind alle Mädchen und Jungen gemeint, die nach dem Krieg in Nordostpreußen geblieben und vom Hungertod bedroht waren. Viele von ihnen wurden 1947 zu Wolfskindern. Einige tausend Kinder landeten aber auch in sowjetischen Waisenhäusern, oder sie arbeiteten weiterhin für die sowjetische Besatzungsmacht, oder sie kämpften auf andere Weise ums Überleben. Grausigen Hunger hatten alle auszuhalten. Deshalb habe ich diesen Oberbegriff gewählt. Ich möchte die Kinderschicksale aus dem Königsberger Gebiet in ihrer Gesamtheit erzählen. 

Wolfskinder-Geschichtsverein: Sie haben erst vor Kurzem ein Buch zur Identität der Wolfskinder veröffentlicht, es war Ihre Doktorarbeit, die Sie an der Berliner Humboldt-Universität geschrieben haben. Nur sieben Monate später erscheint jetzt ein weiteres Buch von Ihnen. Worin unterscheiden sich diese beiden Werke?
Christopher Spatz: In meiner Doktorarbeit stehen Identitätsfragen im Vordergrund. Dort untersuche ich zum Beispiel, von welchen Erfahrungen die Mädchen und Jungen nach 1945 am stärksten geprägt wurden und ob es aufgrund bestimmter Erlebnisse heute ein Wir-Bewusstsein unter den Betroffenen gibt. Mein neues Buch ist populärwissenschaftlicher ausgerichtet. Eingerahmt in viele bislang unveröffentlichte Archivquellen, kommen die Zeitzeugen hier ausführlich selbst zu Wort. Und das ist hochinteressant. Denn es sprechen Menschen, die in den letzten 70 Jahren geschwiegen haben.   

Wolfskinder-Geschichtsverein: Von den Nachkriegsschicksalen der Kinder aus Ostpreußen weiß man seit den 1990er-Jahren. Können Sie erklären, weshalb es vorher gar keine Information zu dem Thema gab? 
Christopher Spatz: Bis 1991 war ganz Nordostpreußen ein militärisches Sperrgebiet. Reisen dorthin waren unmöglich, die sowjetischen Archive verschlossen. Wer wissen wollte, was die deutsche Bevölkerung dort nach 1945 erlebt hatte, konnte das einzig in den Erinnerungsberichten von Pfarrern und Ärzten nachlesen. Ansonsten war man auf Gerüchte angewiesen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion rückten Nordostpreußen und die drei unabhängig gewordenen Baltenrepubliken dann stärker ins öffentliche Bewusstsein.

Wolfskinder-Geschichtsverein: Und wie lässt sich verstehen, warum seitdem speziell die Wolfskinder immer wieder „neu“ entdeckt werden?
Christopher Spatz: Weil ihre Geschichte noch nicht vollständig erzählt worden ist. Schauen Sie, viele Beiträge zum Thema meinen im chaotischen Fluchtgeschehen 1945 den eigentlichen Auslöser für die Wolfskinder-Schicksale zu erkennen. Mit dieser Sichtweise geht in der Regel vollkommen unter, dass die meisten Jungen und Mädchen bei Kriegsende mit Müttern und Geschwistern noch ganz normal vereint waren und erst im Folgenden, durch eine der größten humanitären Nachkriegskatastrophen Europas, ihre Angehörigen verloren. Das Marginalisieren der kindlichen Hungererfahrungen hat mich von Anbeginn meiner Forschungen verwundert, zumal sich gerade in den ersten Arbeiten zu den Wolfskindern aus den 1990er-Jahren (etwa die grundlegenden Pionierstudien von Ruth Kibelka, der Aufsatz von Arthur Hermann und die TV-Dokumentation von Eberhard Fechner) der alles zersetzende Hunger doch schon sehr klar herauskristallisierte. Dort anknüpfend, lassen sich die Wolfskinder-Geschichten heute noch einmal „neu“ entdecken, indem man die Dimension der ostpreußischen Hungersnot voll ausleuchtet und den Zeitzeugen außerdem genau zuhört, wenn diese berichten, wie sehr und weshalb sie mit ihren Erinnerungen über all die Jahrzehnte so unfassbar einsam geblieben sind.

Wolfskinder-Geschichtsverein: Glauben Sie, dass über Ostpreußens Hungerkinder mit Ihrem Buch nun alles Wichtige gesagt wurde? Oder beschäftigen Sie sich weiterhin mit diesem Thema?
Christopher Spatz: Unsere Gesellschaft wird immer sensibilisierter für Kriegskinder und ihre Schicksale. Flucht, Vertreibung und das Hungersterben der eigenen Familie verursachen in Kinderseelen tiefe und teilweise unheilbare Verletzungen, die sich gerade im hohen Lebensalter noch einmal in aller Deutlichkeit bemerkbar machen. Es gäbe also enorm viele Möglichkeiten für weitere vielversprechende Forschungsvorhaben. Aber die Zeit drängt, da der Kreis der noch lebenden Zeitzeugen kleiner wird. Ich selbst bleibe dem Thema sicherlich verbunden. In welcher Form, ist momentan noch nicht genau abzusehen. Sollte es in nächster Zeit einen Versuch geben, der eine finanzielle Entschädigung der Wolfskinder und Waisenhausinsassen durch die Bundesrepublik zum Ziel hätte, würde ich das auf jeden Fall begrüßen. Dass diese Gruppe beim jüngsten Beschluss des Bundestages zur Entschädigung ziviler deutscher Zwangsarbeiter abermals nicht berücksichtigt worden ist, hat mich persönlich sehr traurig gemacht.

Wolfskinder-Geschichtsverein: Es gibt weiterhin Kriege, in denen Familien getrennt werden und Menschen den Weg der Flucht wählen. Können sich Schicksale wie die der Wolfskinder jederzeit wiederholen? Oder ist die Ausgangsposition heutzutage eine grundlegend andere?
Christopher Spatz: Hätte man vor hundert Jahren in Königsberg oder Insterburg Bürgerinnen und Bürger gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, dass ihre Kinder und Enkel eines Tages zu „Wolfskindern“ würden, wäre die zu erwartende Antwort sicherlich ungläubig bis abweisend ausgefallen. Bekanntlich soll man mit dem Wörtchen „nie“ sehr sparsam umgehen. Insofern würde ich nicht kategorisch ausschließen, dass sich Schicksale wie die der anhanglosen Ostpreußenkinder irgendwann wiederholen könnten. Schaut man auf die aktuellen Kriegs- und Krisengebiete wird allerdings deutlich, dass es praktisch keine Region mehr gibt, aus der nicht regelmäßig Texte und Bilder in die Welt hinausgesendet werden. Im Gegensatz zu 1945/47 würde die Völkergemeinschaft heute also wohl wesentlich früher davon erfahren, wenn nach einem Krieg Hunderttausende Zivilisten entrechtet und abgeschottet, ihre sozialen und wirtschaftlichen Strukturen zerschlagen und sie hungerleidend ihrem Schicksal überlassen würden. Ähnlich sähe es wahrscheinlich auch im Falle von anhanglosen Hungerflüchtlingen im Kindes- und Jugendalter aus, die in einem anderen Land untertauchen müssten. Auch sie könnten heute über die sozialen Medien leichter den Kontakt zu ihren Angehörigen halten und wären dementsprechend weniger gefährdet, ihre Wurzeln zu verlieren. 

Wolfskinder-Geschichtsverein: Hält Ihr Buch nur betrübliche Geschichten bereit oder stimmt es auch optimistisch?
Christopher Spatz: Über das Leben und Sterben der ostpreußischen Mädchen und Jungen hat oft der Zufall entschieden. Am Ende hat den Hunger aber niemand überlebt, der nicht auch mutig, tapfer und anpassungsfähig war. Obwohl alle Betroffenen damals zu Opfern der Nachkriegsereignisse wurden, erzählen sie heute nicht nur Opfergeschichten. Sie lassen erkennen, dass Traumatisiertsein nicht automatisch bedeuten muss, dass man schwach ist. Sie zeigen, dass Angewiesensein nicht gleichzusetzen ist mit Selbstaufgabe. Und sie offenbaren auch, dass man sich trotz unheilbarer seelischer Wunden sein Ausdauervermögen und seine Zuversicht bewahren kann. Bei aller Schwere strahlt dieses Buch also etwas sehr Lebensbejahendes aus. 

Wolfskinder-Geschichtsverein: Herr Spatz, wir danken Ihnen für das Gespräch. 

Spatz, Christopher: Nur der Himmel blieb derselbe – Ostpreußens Hungerkinder erzählen vom Überleben, Ellert & Richter Verlag, Hamburg 2016, 16,95 Euro.